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Die Geburtsstunde der Christlich-Sozialen Volkspartei

Am 8. Dezember 1945 trafen sich Freunde der Christlich Sozialen Volkspartei Nürtingen (CSVP) um 14 Uhr im Evangelischen Vereinshaus zu einer Besprechung. Auf dem Genehmigungsblatt der Militärregierung ist handschriftlich vermerkt, dass die Besprechung unter der Leitung von Hermann Kling mit 40 Personen stattgefunden habe und dass man nach einer lebhaften Aussprache übereingekommen sei, am 14.12.45 eine öffentliche Veranstaltung durchzuführen. In dem Bericht von Johannes Sonn an die Amerikaner finden wir nähere Angaben über diese Veranstaltung – die der Quellenlage nach vermutlich die erste offizielle Zusammenkunft der Freunde um Kling und Sonn war. Kling hat an diesem Abend von der Gründung der CSVP in Stuttgart berichtet, an der er teilgenommen hatte. Daraufhin gab es viele Fragen und eine angeregte Aussprache, an deren Ende beschlossen wurde, in Nürtingen am Abend des 14. Dezember 1945 eine öffentliche Versammlung abzuhalten, um die Bevölkerung über die Partei und ihre Ziele zu informieren. Diese Versammlung zum Thema „Die Christlich Soziale Volkspartei. Was sie ist und was sie will.“ mit Kling als Redner wurde im Hotel „Vier Jahreszeiten“ durchgeführt, mit Genehmigung der Militärregierung.


In einem Gespräch hatte Captain Geist von der amerikanischen Militärregierung Sonn am Morgen des 14. Dezember 1945 noch vor dieser ersten großen Veranstaltung über das genaue Verfahren zur Ankündigung und Durchführung von politischen Veranstaltungen informiert. Captain Geist betonte, dass es nicht erlaubt sei, Lokal- oder Weltnachrichten zu verbreiten. Wahlberechtigt seien nur Personen, die nach dem 1.5.1937 NSDAP-Mitglied geworden seien, kein Amt in der Partei oder den angeschlossenen Verbänden innegehabt hätten und auch sonst in keiner Weise für die NSDAP tätig geworden seien.


Am folgenden Tag finden wir bei den Unterlagen eine Eilanfrage von Sonn mit der Bitte, am selben Tage mit engeren Freunden, etwa 10-15 Personen, um 16 Uhr in seiner Wohnung in der Ziegelstraße zusammenkommen zu dürfen, um einen Vorstand für die CSVP zu bilden und künftige Aufgaben zu planen sowie finanzielle Angelegenheiten zu besprechen. Handschriftliche Anmerkungen geben Aufschluss über den Kreis der Eingeladenen; bei zwei Namen steht die Anmerkung: „part. abgelehnt“ – es wird sich um Personen handeln, die im Zusammenhang mit der Entnazifizierung als belastet galten und für die Parteiarbeit nicht zur Verfügung standen. – Major Warren schreibt am 16.12.1945 an seine Vorgesetzten in einem Bericht, dass die CSVP am 15.12.1945 gegründet worden sei. Als Vorstandsmitglieder meldet er: Johannes Sonn, Kaufmann und Kämmerer der Stadt Nürtingen; Hermann Kling, früher Leiter einer Grundschule in Wendlingen, jetzt Gutsbesitzer auf dem Sonnenhof im Tiefenbachtal; Gustav Bader, Angestellter beim Finanzamt; Karl Bühler, Kaufmann und den Kirchheimer Johannes Dilger in Kirchheim, Leiter der Oberschule.

Anders als in Esslingen ist die Quellenlage dieser ersten Jahre der CSVP im Altkreis Nürtingen gut, obgleich alle Unterlagen aus dieser Zeit beim Umzug der CDU–Kreis-geschäftsstelle nach Plochingen vom Laster gefallen sind und nicht aufgesammelt wurden, „weil man dann den alten Gruscht nicht auch noch einräumen muss“. Wir verdanken die gute Quellenlage vor allem einer Sammlung von Elmar Müller, die Kopien der wichtigsten Unterlagen aus der Gründungszeit enthält. – Es gibt Tagebuchaufzeichnungen von Major Stanley Warren und die Wochenberichte an seine Vorgesetzten in den OMGUS - Unterlagen im Hauptstaatsarchiv Stuttgart und Unterlagen im Archiv der Stadt Nürtingen. Leider enthalten die „Political Activity Reports“ der Militärregierung keine Einzelheiten aus der Parteiarbeit; zudem ist es schwer, das Ablagesystem der Amerikaner zu durchschauen - manche wichtigen Unterlagen tauchen unvermutet an falscher Stelle auf, so dass die Quellen zu wichtigen Inhalten nicht aussagekräftig sind.


Die Ausgangslage: Deutsche Verwaltung und amerikanische Militärregierung

Nürtingen war am 22.April 1945 von Oberboihingen her durch die 103. amerikanische Infanteriedivision unter Generalmajor McAuliffe besetzt worden. Tags zuvor hatten jenseits des Neckars die Franzosen die Vorstadt Oberensingen eingenommen. Beim Herannahen der Franzosen hatten Wehrmachtspioniere die Neckarbrücke gesprengt; es hatte sich in den letzten dramatischen Tagen des Krieges herumgesprochen, dass es besser sei, von den Amerikanern besetzt zu werden. Und die Sprengung der Brücke war „beim Herannahen des Feindes“ schon lange vorher befohlen und vorbereitet worden.

Eine unter Captain Stanley Warren stehende Gruppe belegte das erste Stockwerk im Rathaus für die Militärregierung und bildete fortan die oberste Instanz für Stadt und Kreis Nürtingen. Captain Warren und sein Stellvertreter Justus Geist waren wie Major Taylor in Esslingen in Shrivenham/Südengland zusammen mit 2000 ausgesuchten Offizieren glänzend auf ihre Aufgaben in den jeweiligen Städten vorbereitet worden. Nach der Besetzung Nürtingens schreibt Warren am 10.5.45 in sein Tagebuch: „Die neu ernannten Verwaltungsleute sind in politischer Hinsicht Männer der Mitte (middle of the road men). Bis jetzt haben sich keinerlei Ansätze eines neuen politischen Lebens gezeigt. Das Ende des Krieges ist von der Bevölkerung mit großer Erleichterung zur Kenntnis genommen worden.“

Das Leben unter und mit der Militärregierung verlief in Nürtingen unter denselben Gesetz-mäßigkeiten wie in Esslingen. Obgleich Kirchheim viel mehr Einwohner zählte, hatten die Amerikaner Nürtingen als Sitz der Militärregierung vorgesehen. Es gab in Nürtingen keine spektakulären Übergabeverhandlungen, die prominente Bürger in die Hand nehmen mussten.


Nürtingen war zudem die letzte Stadt, die in unserer Region von den Amerikanern ein-genommen wurde – jeder wusste, dass der Krieg vorbei war. So nahm die lokale Militär-regierung ihre Arbeit auf und arbeitete mit den deutschen kommunalen Verwaltungsstellen, die nur mehr ausführende Organe waren, sofern sie überhaupt noch vorhanden waren. Bürgermeister Pfänder fand sich bereit, bis zum 8. Mai, dem Tag der Kapitulation, im Dienst zu bleiben. Er zog sich danach zu seiner Familie nach Neuffen zurück. Ihm folgte Hermann Weilenmann, interessanterweise sein Vorgänger im Amt, der 1939 hatte gehen müssen, weil er sich beharrlich geweigert hatte, in die NSDAP einzutreten. Er machte da, wo er 1939 aufgehört hatte, weiter. – Der Beginn der Besatzungszeit verlief in Nürtingen also weitaus unspektakulärer als in Esslingen, unter anderem vermutlich durch die Tatsache, dass Bürgermeister Weilenmann schon früher dieses Amt bekleidet hatte und es fachmännischführte. Major Warren und Captain Geist bewiesen zudem im Laufe der Zeit viel Einfühlungsvermögen in die Nürtinger Situation und versuchten, für die Bevölkerung pragmatische Lösungen herbeizuführen.


Anfänge des demokratischen Lebens

Am 26.9.45 schreibt Warren in sein Tagebuch: „Langsam scheint sich wieder ein politisches Leben zu entwickeln. Die Kommunisten und die Sozialdemokraten haben Formulare verlangt, deren Einreichen und Genehmigung die Voraussetzung für die Aufnahme politischer Arbeit ist. Die Mehrheit der Bevölkerung reagiert jedoch nach wie vor apathisch auf jede politische Bestrebung. Die politischen Kräfte, die vor der Machtergreifung der Nazis das Leben beherrschten und die wir wieder ins Leben zu rufen scheinen, haben die Leute damals verwirrt und hoffnungslos gemacht. ... Als Folge der verwirrenden Zustände vor der Machtergreifung haben viele Leute einen Widerwillen gegen jede Form politischen Lebens entwickelt; andere sehen keinen Grund, sich politisch zu engagieren, ein weiterer Teil will zumindest jetzt noch keiner Partei beitreten, denn es könnte ja erneut geschehen, dass es auch dieser Partei ergeht wie der NSDAP.“


Am 4.11. wurden die SPD mit 10 Mitgliedern und die KPD mit 100 Mitgliedern in Nürtingen wieder gegründet; in der zweiten Novemberhälfte folgte die Demokratische Volkspartei mit 20 Mitgliedern, deren leitender Kopf Professor Dr. Löffler, Leiter der Oberschule und Polizeichef, war. Sein Stellvertreter war Bürgermeister Hermann Weilenmann.


Dass die CSVP als letzte Partei gegründet wurde, hatte gute Gründe. Thomas Ruf aus Esslingen und Paul Durst aus Wendlingen haben übereinstimmend berichtet, dass sich schon im Sommer 1945 im Raum Nürtingen befreundete Persönlichkeiten getroffen hatten, um über die Zukunft des Staates und die Neugründung von Parteien zu sprechen. Diese Treffen fanden in Privathäusern in kleinem Kreise statt, da die Militärregierung zunächst jede politische Betätigung untersagt hatte. Es handelte sich um Männer, die in der Zeit des Nationalsozialismus zur katholischen Studentengemeinde in Tübingen gehört hatten, Widerstandskreise um Robert Bosch, Angehörige des Christlich Sozialen Volksdienstes mit Paul Bausch und Wilhelm Simpfendörfer, christliche Gewerkschaftler wie Josef Ersing gehörten ebenso zu diesem Kreis wie Josef André, der Zentrumsmann. Sie verfolgten das Ziel, eine große christliche bürgerliche Sammlungspartei zu gründen, dabei nicht an die konfessionell bestimmten Parteien der Weimarer Zeit - das katholische Zentrum und den evangelisch orientierten Christlichen Volksdienst - anzuknüpfen, sondern eine breit angelegte christliche Volkspartei zu gründen und den Bauern- und Weingärtnerbund sowie die Liberalen an sich zu binden. An diesen Gesprächen nahm aus Nürtingen vor allem Hermann Kling teil.

Die Bedeutung des großen unermüdlichen Einsatzes von Kling und Sonn kann nur ermessen, wer die vielen Genehmigungsbriefe der Militärregierung betrachtet; während der zahlreichen Wahlkämpfe leiteten sie täglich zwei bis drei Veranstaltungen, zum größten Teil außerhalb von Nürtingen in verschiedenen Kreisgemeinden. Es gab keine wirklich funktionierenden Telefonverbindungen, keine öffentlichen Verkehrsmittel, kaum Papier, dazu litten auch sie unter dem ständigen Hunger; beide mussten ihrem Beruf nachgehen.


Sie haben durch ihren Einsatz die Basis für die Entwicklung der CDU im Altkreis Nürtingen gelegt.

Wahlen, Wahlen, Wahlen...

In der zweiten Januarhälfte 1946 meldet die CSVP der Militärregierung, dass die Partei im Kommunalwahlkampf in der Stadt insgesamt 5 Veranstaltungen mit 1225 Besuchern durchgeführt, 2000 Handzettel und 2000 Druckschriften verteilt und 300 Plakate aufgestellt habe. Die Nürtinger Ortsgruppe habe 28 Mitglieder, 713 RM, davon 583 RM aus freien Spenden, den Rest aus einer Hutsammlung während einer Veranstaltung.


Die beste und zugkräftigste Veranstaltung habe die CSVP mit 400 Personen durchgeführt, teilt Major Warren der Militärregierung nach der Wahl am 27.1.1946 mit; dies zeige auch das Ergebnis der Wahl, in der die CSVP 44% der Stimmen erhielt, die SPD 20 %, die KPD 12 %.


Für die CSVP /CDU wurden Frierich Reinöhl, Paul Frauer, Johannes Sonn, Wilhelm Koch, Hermann Wurster, Ludwig Gutekunst, Paul Seitz, Paul Hirning, Karl Bühler und Friedrich Krämer in den Gemeinderat gewählt.


Dass Sonn auch politisch etwas bewegen wollte, zeigt eine Veranstaltung zu Beginn des Kreistagswahlkampfes im April 1946.


Die Nürtinger CDU (seit dem Februar 1946 war dies der offizielle Name) hatte nach intensiven Diskussionen folgende Forderungen an die Landespartei formuliert:

  • Der CDU-Antrag wurde unterstützt, im vorläufigen Parlament den Kontrollrat in Berlin zu bitten, die Flüchtlingsfrage zu überprüfen; in diesem Zusammenhang wurde die Forderung nach der politischen und wirtschaftlichen Einheit Deutschlands unterstrichen;

  • Forderung nach einer christlichen Gemeinschaftsschule mit konfessionellem Frieden.

  • Besonders begrüßt wurde die Unterstützung der amerikanischen Regierung durch Lebensmittel; es wurde angeregt, diese mit Industrieprodukten zu bezahlen;

  • dringende Forderung an die Alliierten, die Gefangenen freizulassen;

  • Forderung nach einer Presse, in der dem deutschen Volk die Ziele des Neuaufbaus auf christlicher Grundlage klargemacht werden.

Im Übrigen verlief der Wahlkampf eher schleppend. Das lag sicher daran, dass die Bauern ihre Felder bestellen mussten und dass die Versorgungslage sehr schlecht geworden war.


Die Forderung nach Freilassung der Gefangenen aus russischer Kriegsgefangenschaft, nach Information über das Schicksal verschollener Familienangehöriger und Soldaten wurde auch in späteren Veranstaltungen erhoben. Kriegerwitwen und allein stehende Frauen (oft mit Kindern; der Vater war gefallen oder verschollen) erhielten keine Renten- oder Versorgungszahlungen und waren auf die Fürsorgehilfe der Kommunen angewiesen. Warren beklagt im Juni 45 verdrossen den politischen Schlaf der Bürger, vor allem die Frauen müssten stärker angesprochen werden. Aus der Distanz vieler Jahrzehnte betrachtet mag diese Forderung verständlich sein. Andererseits hatte die Bevölkerung drängendere Sorgen als den Aufbau eines neuen politischen Lebens oder gar die Kreistagswahlen vom 28. April, auf die Warren sich bezog. Wer von dem leben musste, was er auf der Lebensmittelkarte bekam, hatte schlicht Hunger. – In der Kreistagswahl hatte die CDU mit 54% der Stimmen überraschend gut abgeschnitten; sie hatte 18 von 30 Sitzen gewonnen.


Zwei weitere Wahlen sollten 1946 noch folgen; die erste von gehobener Bedeutung war die zur Verfassungsgebenden Landesversammlung am 30. Juni 1946. Die CDU führte in Nürtingen Anfang Juni eine große Veranstaltung mit Justizminister Dr. Beyerle durch, an der 250 Besucher teilnahmen. Hermann Kling war der erste Kandidat der CDU im Kreis Nürtingen; er wurde mit 32,5 % der Stimmen gewählt, die CDU gewann im Land 41%, die SPD 32 %, die DVP 17 %, die KPD nur noch 10%. Der Misserfolg der Kommunisten resultierte nach Warrens Meinung an einem Widerwillen gegen Diktaturen aller Art. Die Wahlbeteiligung lag nur noch bei 66%.


Die erste richtige Landtagswahl sollte am 24. November 1946 stattfinden; der CDU-Kandidat war wieder Hermann Kling. Natürlich musste diese bedeutende Wahl von der Partei her gut vorbereitet werden, denn es ging nicht nur um die Wahl der Abgeordneten, sondern auch um die Zustimmung der Bevölkerung zur Verfassung. Die Deutschen erhielten in dieser Wahl ein Stück jenes Lebens an die Hand, das heute als selbstverständlich betrachtet wird.


Es war in den Sommermonaten Juli und August nicht leicht, Versammlungen durchzuführen. Die Menschen waren mit Garten- oder Feldarbeit beschäftigt oder sie versuchten, Vorräte für den Winter zu hamstern. Deshalb fanden im Juli, August und September nur wenige öffentliche CDU-Veranstaltungen statt. In den Besprechungen in kleinerem Kreis tauchte in diesen Sommermonaten ein zusätzliches Problem auf, das nicht nur kommunalpolitisch insbesondere für die CDU bedeutsam werden sollte : die Ostflüchtlinge. Sie spielten jedoch als Wähler bei der Landtagswahl im November 1946 noch keine Rolle, weil die meisten weniger als ein Jahr in Nürtingen lebten.


Die CDU hat in Nürtingen bei dieser Wahl fünf Veranstaltungen durchgeführt und versucht, auch solche für Frauen und die Jugend, die mit 250 Personen sehr gut besucht waren. Bedenkt man die Umstände, war die Wahlbeteiligung mit 71,7% recht hoch. Auf die CDU entfielen 39 Sitze, auf die SPD 32, auf die DVP 19 und auf die KPD 10 Sitze. Die CDU hatte auch in Nürtingen als stärkste Partei mit 30,2% vor der SPD mit 26,6% die Wahl gewonnen – Hermann Kling war der erste Landtagsabgeordnete der CDU im Kreis Nürtingen. Das Landesparlament hatte zwar begrenzte Befugnisse, aber es stellte einen Anfang dar.


Integration der Vertriebenen

Das folgenschwerste und weitreichendste Ereignis der Nachkriegszeit, die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa, führte im Herbst 1946 noch ein Schattendasein. Zwar waren seit dem Spätsommer 1945 immer wieder einzelne Personen und Familien nach Nürtingen (Stadt und Kreis) gekommen. Doch war die Entwicklung, die im März 1946 ihren Anfang nahm, von einer anderen Dimension: Seit der alemannischen Landnahme vor 1.500 Jahren hatte kein vergleichbarer Neusiedlerstrom den Kreis Nürtingen erreicht.


Nürtingen hatte mit Ausnahme weniger Häuser und der Lutherkirche keine größeren Zerstörungen durch Luftangriffe erlitten. Trotzdem gab es in Nürtingen bereits am Ende des Krieges eine gewisse Wohnungsnot; in der Stadt lebten viele osteuropäische Zwangsarbeiter, die während der Nazizeit in der Nürtinger Industrie hatten arbeiten müssen. Sie lebten überwiegend im Mühlwiesenlager. – Die Amerikaner ließen nach ihrem Einmarsch ganze Straßenzüge und viele Villen für sich räumen. Deshalb waren die Wohnungen in Nürtingen bereits im März 1946 überbelegt.


Die Franzosen nahmen in den von ihnen besetzten Gebieten keine Heimatvertriebenen und Flüchtlinge auf; die amerikanisch besetzten Städte und Gemeinden mussten deshalb die „Kontingente“, die ihnen zugewiesen wurden, unterbringen. Da die größeren Städte wegen der enormen Kriegszerstörungen meistens niemanden aufnehmen konnten, lag es an den kleineren Städten und Gemeinden, diese Personen mit Wohnung, Nahrung, Kleidung und allem Lebensnotwendigen zu versorgen – eine gewaltige Anstrengung, weil es ohnedies schon eng zuging.


So rollten seit dem März 1946 immer wieder Güterzüge mit jeweils 500 bis 1.400 Personen im Nürtinger Bahnhof ein. Die Ankömmlinge wurden nach einem bestimmten Schlüssel auf die Gemeinden verteilt, die ihrerseits für die Unterkünfte sorgen mussten. Sie wurden anfangs in Einzelunterkünfte eingewiesen, als der Strom jedoch nicht abriss auch in Turnhallen, Gaststätten oder Schulen. Die Versorgung mit dem Lebensnotwendigsten wie Nahrung und Kleidung war äußerst problematisch, weil nach einer Anweisung sämtliche Bezugberechtigungen für Ostflüchtlinge von den „normalen“, das heißt ohnedies kargen Kontingenten entnommen werden musste.


Diese dringenden Probleme mussten innerhalb weniger Wochen und Monate gelöst werden. Das Thema wurde deshalb auch in steigendem Umfang auf politischen Veranstaltungen behandelt. Die Protokolle Sonns zeigen, dass die CDU ab Januar 1947 intensive Vorstöße gemacht hat, um die Voraussetzungen für neue Baugebiete in Nürtingen zu schaffen. In der ersten Mitgliederversammlung 1947 (13.1.) wurde die Wohnraumbeschaffung in einer eigenen Veranstaltung des Stadtverbandes behandelt und die Planung von Wohnungen für 2 000 Menschen im Rossdorf gefordert; gleichzeitig wurde an die Militärregierung appelliert, bei der Beschaffung von Baumaterial behilflich zu sein. – Die Wochenmeldung Sonns an die Militärregierung zeigt, dass bereits eine Woche später ein Gespräch mit dem Bürgermeister, Gemeinderäten und Vorstandsmitgliedern zur Umsetzung dieser Forderungen geführt wurde.


Am 28.3.1947 fand ein Treffen der Bürgermeister aller Kreisgemeinden statt auf die Ankündigung, sie müssten sich auf das Eintreffen weiterer Vertriebener vorbereiten. Die Bürgermeister machten dem Landrat klar, dass bei einer Fortsetzung des bisherigen Zuflusses von Menschen die Gemeinden des Kreises unter den Schwierigkeiten zusammenbrechen würden. Die Lebensmittelversorgung werde täglich schlechter, es gebe nicht einmal mehr genügend Kartoffeln. – Mitte April drohte das Problem zu eskalieren. Die Bevölkerung Nürtingens war inzwischen um 57% gewachsen. Der Kreis Nürtingen hatte bis April 1947 27 101 Vertriebene aufgenommen und verfügte über keinerlei weitere Wohnungsreserven. Von Stuttgart waren dem Kreis Nürtingen aber insgesamt 38 000 Personen angekündigt worden! – In dieser ausweglosen Lage setzten sich die deutschen Behörden mit den amerikanischen Offizieren zusammen, um nach einem Ausweg zu suchen. Aus dem Bericht Major F. Capell an die Landesmilitärbehörde geht hervor, dass er sich schon vorher mit seinen Vorgesetzten ins Benehmen gesetzt hatte, um den Strom der Flüchtlinge in andere Kreise zu lenken. – Alle Einsprüche halfen nichts. Landrat Dr. Schaude, vom Staatskommissar für das Flüchtlingswesen und der Militärregierung berufener Flüchtlingskommissar, dachte sogar darüber nach, neue Städte oder Gemeinden zu gründen; weil dieser Vorschlag die notwendige Integration der Vertriebenen unmöglich machen würde, nahm Schaude schließlich Abstand von diesem Plan.


Die Vertriebenen blieben lange Jahre Fremde. Durch die politische Entwicklung hatten sie inzwischen auch keine Hoffnung mehr, in ihre Heimat zurückzukehren.


Die Einwohnerzahl Nürtingens war inzwischen von 10 500 auf 16 150 (1946) angewachsen.


In den Kommunalwahlen im Dezember 1947 waren die Neubürger wahlberechtigt, die Stimmen der Vertriebenen stellten ein beachtliches Gewicht dar. Alle Parteien bemühten sich, Neubürger auf ihrer Liste aufzustellen; doch sie traten mit einer eigenen Liste an, die sie „Freie Wählervereinigung – Notgemeinschaft“ nannten. Sie versuchten wie die Parteien, auch eigene Veranstaltungen durchzuführen. Das Interesse daran war gering, es kamen nur 30 Personen. - Deshalb war das Wahlergebnis für alle überraschend.


Die CDU hatte in Nürtingen in allen Wahlen nach dem Zusammenbruch die meisten Stimmen auf sich ziehen können, mit deutlichem Vorsprung vor der SPD, den Liberalen und der KPD. In den Kommunalwahlen 1947 wurde sie jedoch von anderen überflügelt. Sie erhielt nur noch 5 Sitze im Gemeinderat, die SPD hatte 4, die DVP 6 , die KPD 3, die Neubürger 5 Sitze; ein Sitz ging an eine andere freie Liste.


Was war geschehen? In den Meldungen an die Landesmilitärregierung wird bestätigt, was wir auch den Unterlagen des Stadtverbandes entnehmen können – die CDU war die rührigste Partei geworden; der Stadtverband Nürtingen hatte viele Veranstaltungen mit interessanten Diskussionen durchgeführt, alle anstehenden Alltagsprobleme aufgegriffen – und am Ende bei der Wahl nicht so erfolgreich wie erwartet abgeschnitten.


Der Grund liegt zum einen darin, dass sich zum ersten Mal nicht mehr nur die „klassischen“ Parteien um die Sitze im Gemeinderat bewarben. Wie in anderen Städten gab es in Nürtingen eine eigene Liste für Neubürger. Weil sie (noch) nicht integriert waren, hatten die Neubürger fast ausschließlich Kandidaten von „ihrer“ Liste gewählt. – Bei der Wahl 1947 finden wir fast überall in Württemberg-Baden den Einbruch der CDU-Stimmen auf der einen Seite und auf der anderen das starke Abschneiden der Vertriebenenlisten; in Nürtingen war diese Erscheinung in der Parteienkonstellation nur besonders extrem.


Die Neubürger veränderten in Nürtingen auch die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung. Die Stadt, seit der Reformation 1534 evangelisch mit etwa 700 Katholiken, erhielt mit den Heimatvertriebenen und Flüchtlingen plötzlich 4 000 katholische Bürger, eine Tatsache, die sich in späteren Jahren auch auf die politische Entwicklung auswirken sollte.


Zusammenfassend können wir feststellen:

In Nürtingen hat sich nach dem Zusammenbruch 1945 das „klassische“ Parteienspektrum mit der CDU, den Demokraten und den Arbeiterparteien SPD und KPD herauskristallisiert.


Es gab in dieser Zeit wenig Ansätze, im bürgerlichen Lager Wählervereinigungen zu bilden; die Spitzenpositionen in der Stadt wie Bürgermeister, Polizeichef und Landrat wurden von Verwaltungsfachleuten eingenommen, so dass kein Vakuum entstand, das bürgerliche Persönlichkeiten aus Verantwortung ihrer Stadt gegenüber hätten einnehmen müssen.


Anders als in Esslingen gab es in Nürtingen kein französisches Intermezzo. Die Amerikaner hatten bereits im Sommer 1945 nach der Landrätekonferenz in Murrhardt damit begonnen, demokratische Strukturen aufzubauen und zu unterstützen. Dieser Prozess war in Nürtingen ohne Verzögerungen möglich.


Im bürgerlichen Lager hatten Hermann Kling und Johannes Sonn von Anbeginn die Diskussion in Württemberg um die Gründung der neuen christlichen Partei und ihre Suche nach Partnern begleitet ; sie haben gleich gesinnte Freunde in Stadt und Kreis Nürtingen in ihre Arbeit einbezogen und so eine breite Basis für die Entwicklung der CDU geschaffen.


CDU-Kreisverband Nürtingen

In den Omgus-Akten der Militärregierung finden wir am 2. Februar 1946 eine Protokollnotiz von Johannes Sonn, in der er über eine Bezirkstagung der CDU im Evangelischen Gemeindehaus berichtet; Sonn und Kling informierten die Anwesenden über „den Aufbau der Partei, wie er in Kürze innerhalb des ganzen Kreises erfolgen soll“.


Wenige Tage nach der Gemeinderatswahl haben Sonn und Kling damit begonnen, den Kreisverband der CDU Nürtingen aufzubauen. Bemerkenswert an der oben genannten Aufzeichnung ist vor allem, dass Sonn als „Kreisvorsitzender“ bezeichnet wird, denn erst am 9.2. 1945 finden wir in einem Wochenbericht an die Militärregierung den Bericht von einer Veranstaltung, auf der die Wahl des 1. Kreisvorsitzenden, des Stellvertreters und des Kassiers mitgeteilt wird – leider ohne die Namen der Gewählten anzugeben. Sonn selbst hat erst einige Wochen nach der offiziellen Wahl am 25. April zum ersten Mal als Kreisvorsitzender unterschrieben.


Die Veranstaltungsgenehmigungen der Militärregierung in allen Orten des Altkreises Nürtingen legen Zeugnis von der intensiven Aufbauarbeit ab, die Kling und Sonn – oft mit ministerieller Unterstützung aus Stuttgart, geleistet haben. Neben den politischen Inhalten und dem Parteiaufbau ging es vor allem um Kreisprobleme: Verbesserung der Verkehrsverbindungen, Verlängerung der Tälesbahn von Neuffen über Wendlingen – Kirchheim nach Oberlenningen, der Straßenbau durch das Tiefenbachtal, aber auch Probleme im Zusammenhang mit der Entnazifizierung, bei denen Sonn als Vorsitzender der Spruchkammer Auskunft geben konnte. Dass dieser schonungslose Einsatz nicht ohne gesundheitliche Probleme bleiben konnte, belegen Anträge zum Passieren der französischen Zonengrenze für den Kreisgeschäftsführer Peter Schmidt, der im November 1947 Sonn im Sanatorium in Tübingen besuchen wollte.


Text: Ingrid Stetter, CDU Kreisverband Esslingen


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