top of page

Die Integration der Heimatvertriebenen in Nürtingen

Die Integration der Heimatvertriebenen in Nürtingen


Die Herausforderungen für den neuen Gemeinderat und die Verwaltung waren enorm. Die Besatzungstruppen forderten Unterbringungsmöglichkeiten und warfen ganze Familien aus ihren Häusern. Diese wiederum mussten kurzfristig untergebracht werden. Das Mühlwiesenlager, in dem die insbesondere osteuropäischen Zwangsarbeiter untergebracht waren, wurde von diesen geräumt. Auch für sie wurden Wohnungen geräumt. Die Männer befanden sich noch im Krieg oder in Gefangenschaft, waren also auf jeden Fall nicht zu Hause. Und die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa bahnte sich langsam aber sicher an. Nürtingen war zwar nur zu einem geringen Maße von Bombenangriffen und Kriegshandlungen betroffen. Die Zerstörung der Neckarbrücke durch die Wehrmacht in den letzten Kriegstagen führte jedoch zu einer starken Beeinträchtigung der Handlungsmöglichkeiten.

Das Problem der Unterbringung der US-Truppen und der Zwangsarbeiter muss sich innerhalb weniger Wochen und Monate schnell gelöst haben. Zwar beklagten sich noch 1946 Bürger in den CDU-Versammlungen über Ausschreitungen insbesondere litauischer Fremdarbeiter. Diese Beschwerden klangen jedoch schnell ab.


Viel stärker als zu Beginn angenommen entwickelte sich die Katastrophe im Mittel- und Osteuropa, also die Vertreibung von rund 12 Millionen Deutschen aus ihrer Heimat. Die Menschen kamen ab Ende 1945 völlig mittellos in Nürtingen an und mussten zwangsweise einquartiert werden. Das Lager in den Mühlwiesen war schnell belegt, danach wurden Menschen einfach in Privatwohnungen eingewiesen. Man musste eben etwas enger zusammenrücken – und arrangieren.


Die Heimatvertriebenen blieben lange Fremde in dieser Stadt. Peter Härtling hat in seinen Büchern sehr eindringlich seine Kindheitserlebnisse in Nürtingen verarbeitet. Es darf angenommen werden, dass sich solche Situationen überall gleich ereignet haben.


Am Schluss der Vertreibung standen den ca. 10.000 Nürtinger Einwohnern mehrere tausend Flüchtlinge gegenüber. Es gab für sie keinen Wohnraum und keine Arbeit. Sie wurden im Wesentlichen notversorgt und hatten nur das retten können, was sie am Körper trugen.


Der Gemeinderat bestand ausschließlich aus Alt-Nürtingern. Die Neubürger fühlten sich fremd und hatten auch noch die Hoffnung, am Ende wieder in die alte Heimat zurück zu kehren. Eine Hoffnung, die erst im Laufe der Jahre schwand.


Die eigentliche Integration begann erst etwa 1947. Mit der Wahl eines neuen Gemeinderats am 7. Dezember 1947 rückten erstmals 5 Vertreter einer Liste der Heimatvertriebenen ein. Diese Sitze gingen im Wesentlichen auf Kosten der CDU, aus welchen Gründen auch immer. Jetzt begann man mit der Planung neuer Baugebiete und die heutigen Stadtteile Braike und Enzenhardt zeugen mit ihren Straßennamen, welche Gruppen sich damals in Nürtingen ein neues Zuhause schufen.


Die Integration der Heimatvertriebenen ist sicherlich eine der besonderen Leistungen der jungen Republik. Baden-Württemberg zählte dabei noch nicht einmal zu den Hauptbetroffenen. Mit einem Anteil von 13 Prozent blieben wir weit unter Quoten wie der des neuen Landes Schleswig-Holstein mit rund 33 Prozent!


Dass diese Integration gelang, ist auch dem so genannten „Wirtschaftswunder“ zu verdanken. Durch den Boom nach der Währungsreform im Jahr 1948 gab es spätestens ab Mitte der 50er Jahre ausreichend Arbeit für alle. Damit wurde dem sozialen Sprengstoff der Nährboden entzogen. Die Menschen konnten sich nach und nach ein eigenes, wenn auch bescheidenes Wohneigentum leisten. Damit richteten sie sich in ihrer neuen Heimat ein, ohne ihre Wurzeln zu vergessen.


Trotz ihrer tatsächlichen Integration blieben sich Nürtinger und Heimatvertriebene lange Jahre fremd. Bis 1968 kandidierte für den Nürtinger Gemeinderat eine eigene Liste der Heimatvertriebenen mit solidem Erfolg. Aus dieser ging danach die „Wählergemeinschaft Unabhängiger Bürger“ hervor, die als direkter Nachfolger gelten kann und zuletzt 1975 für den Gemeinderat antrat. Erst mit der Fusion mit den Freien Wählern zur heutigen UFB verschwand dieses letzte Relikt aus der Nachkriegszeit.


Erstmals gelang es der CDU 1962, mit Dr. Werner Czernoch einen Mann aus den Reihen der Heimatvertriebenen für eine Kandidatur zu gewinnen. Obwohl erst 23jährig, wurde er sofort gewählt und konnte sein persönliches Ergebnis bis zu seiner letzten Wiederwahl im Jahr 1999 beständig steigern. Dr. Czernoch schied 2004 nach 42jähriger Amtszeit auf eigenen Wunsch aus dem Gemeinderat aus.


Er selbst kann, wenn gefragt, über viele Anfeindungen ihm gegenüber berichten, die er 17 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs zu ertragen hatte, weil er eben bei der CDU und nicht auf einer eigenen Heimatvertriebenenliste kandidierte. Doch ist gerade er damit das Beispiel dafür, dass Alt- und Neubürger lernten, miteinander zu leben. Mit ihm begann die Öffnung der CDU Nürtingen von der Partei der Alt-Nürtinger für alle!


Heute, rund 60 Jahre später, fragt niemand mehr, woher jemand kommt. Die Integration der Heimatvertriebenen war das Glanzstück der Bundesrepublik Deutschland.


bottom of page