Festakt "75 Jahre CDU Nürtingen"
Das schlechteste Wahlergebnis aller Zeiten bei einer Bundestagswahl lag vielen der 80 Besucher der Jubiläumsfeier zum 75-jährigen Bestehen des CDU-Stadtverbandes anfangs noch schwer im Magen. Festredner Günther Oettinger gelang es dann aber in seinem kurzweiligen 30-minütigen Streifzug durch die Welt- und Deutschlandpolitik – und der schonungslosen Aufarbeitung des Wahldesasters –, bei vielen Parteifreunden den Glauben an die Stärken ihrer Christdemokraten wieder gewinnen zu lassen.
„Unser Stadtverband wurde unmittelbar nach Kriegsende von Johannes Sonn aus einer Gruppe des ehemaligen Christlich-Sozialen Volksdienstes gegründet“, blickte der Stadtverbandsvorsitzende, Dr. Matthias Hiller auf die Anfänge seiner am 14. Dezember 1945 offiziell gegründeten Vereinigung zurück. Hiller begrüßte unter anderem Gäste aus der Partnerstadt Zerbst und streifte in seiner Rede die markantesten Ereignisse des vergangenen Dreivierteljahrhunderts. Bei den ersten Nürtinger Gemeinderatswahlen erhielt die CDU 40 Prozent und war danach maßgeblich an der Integration und Wohnraumbeschaffung der Heimatvertriebenen beteiligt. In den Siebzigerjahren bedeutete die Eingemeindung der Ortsteile Hardt, Neckarhausen, Raidwangen, Reudern und Zizishausen auch für die CDU eine Mammutaufgabe. 1990 forderte die CDU-Fraktion mehr Tagespflegegruppen für ältere Bürger und in den 2000er-Jahren setzte man sich für den Ausbau und die Sanierung der Nürtinger Schulen ein. „Unsere Themen sind nachhaltig und ziehen sich konstant durch Nürtingens Geschichte“, schloss Hiller sein Kaleidoskop durch die Politikgeschichte seines Stadtverbandes.
Stephan Hänlein, der die Veranstaltung mit dem zur Couleur der Christdemokraten passenden Hit der Rolling Stones „Paint it black“ auf seiner E-Gitarre musikalisch eröffnet hatte, spielte die Europahymne, bevor der Hauptredner des Abends, der ehemalige EU-Kommissar und langjährige baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger, auf die Bühne der festlich geschmückten Kreuzkirche trat. Der seit Kurzem als Präsident der EBS Universität für Wirtschaft und Recht in Wiesbaden tätige Oettinger attestierte Nürtingens Hochschule HfWU einen hervorragenden Ruf, worin er eine gute Grundlage für die Zukunft der Schulstadt Nürtingen sieht. „Chinas Staatspräsident Xi Jingping will aus seinem Land die Nummer eins der Welt machen, und auch bei US-Präsident Joe Biden heißt es ‚America first‘. Und wir diskutieren darüber, ob die ‚Mohrenstraße‘ noch so heißen darf“, forderte der ehemalige EU-Kommissar die deutschen Politiker dazu auf, sich wieder mehr um die wirtschaftliche Stärke unseres Landes zu kümmern.
Deutschland sei kein Sanierungs-, aber ein Reformfall. Die Sozialsysteme Renten-, Arbeitslosen-, Pflege- und Krankenversicherung sind für Oettinger nicht nachhaltig genug aufgestellt. Der gebürtige Stuttgarter kritisierte auch die Null-Zins-Politik der EZB und die explodierenden Energiepreise. „Die CDU hat im Wahlkampf nicht den Mut gezeigt, auf die notwendigen Reformen hinzuweisen“, begann Oettinger seine Analyse des Wahldebakels vom 26. September.
„Die Probleme haben bereits in der Regierung Merkel begonnen. Kein einziger Minister des Kabinetts kam als Kanzlerkandidat in Frage, was zeigt, dass die Auswahl suboptimal war“, sieht Oettinger auch in der Wahl von Kramp-Karrenbauer als zeitweilige CDU-Bundesvorsitzende einen Rückschritt für seine Partei. Der größte Fehler war für Oettinger jedoch die Nominierung von Armin Laschet zum Kanzlerkandidaten. „Man muss die Basis künftig in solche Entscheidungen einbeziehen“, forderte der 67-jährige Politiker in seiner frei gehaltenen illustren Rede. „Wenn wir aus unseren Fehlern lernen, ist kein Grund vorhanden, um in Schutt und Asche zu verfallen“, rief Oettinger zu einem Neuanfang in seiner CDU auf.
„Der CDU-Stadtverband Nürtingen schafft es seit 75 Jahren, an den Menschen dran zu sein und diese zu begeistern“, ging Nürtingens Oberbürgermeister Dr. Johannes Fridrich in seinem Grußwort auf die von der CDU-Fraktion mit auf den Weg gebrachten Projekte Roßdorf, Hölderlin-Gymnasium, Braikeschule und Club Kuckucksei ein. „Auch Politiker auf der lokalen Ebene müssen viel Mut und Profil zeigen und sich dem Gegenwind der Bevölkerung aus den sozialen Medien öffentlich stellen“, betonte der OB. Es sei wichtig, dass es in unserer Gesellschaft Menschen gibt, die sich für andere einsetzen.
In einem Film wurde auf besondere Ereignisse der vergangenen 75 Jahre, wie der Besuch der Bundeskanzler Ludwig Erhard 1969 und Angela Merkel 2016 in Nürtingen, zurückgeblickt.
Nach der Beendigung des offiziellen Teils mit der gemeinsam gesungenen Nationalhymne klang der gelungene Festabend bei einem Ständerling gesellig aus. Die gesamte Veranstaltung wurde von einem ARD-Team gefilmt. Ausschnitte davon werden am 14. Oktober zwischen 21.45 und 22.15 Uhr in der Sendung „Kontraste“ ausgestrahlt.
Text: Rudi Fritz, erschienen am 11. Oktober 2021 in der "Nürtinger Zeitung"
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